Ist es möglich, dass Niedersachsen demnächst den ersten, vollständig „grünen“ Landtag Deutschlands aufweist? Wenn es nach dem Willen der niedersächsischen Wasserkraftwerker geht, dann ja. Bei diesen Überlegungen handelt es sich nicht um Wahlprognosen, sondern um die Möglichkeit, das an der Leine gelegene Landtagsgebäude an eine regenerativen Energiequelle anzuschließen. Tatsächlich ließe sich die angrenzende Flusswasserkunst im Herzen Hannovers für die Errichtung eines Wasserkraftwerks nutzen. Zu diesem Ergebnis kommen die Autoren einer von der TU Braunschweig vorgestellten Wasserkraft-Potenzialanalyse für Niedersachsen.
0,5 Prozent – Energiewende im Dornröschenschlaf?
Vor allem an den größeren Wasserläufen Elbe und Weser ließe sich die Strommenge der Studie zufolge um das Fünffache steigern. Die Verfasser des niedersächsischen Energiewendebericht hingegen erkennen keine Notwendigkeit, fließende Gewässer als regenerative Energiequelle zu werten. Ein Problem, mit dem die Wasserkraftanlagenbetreiber in Niedersachsen seit Langem zu kämpfen haben: Der Nutzen von Wasserkraftanlagen für die Energiewende wird im Bundesland bisher nicht ausreichend betrachtet. Laut Energiewendebericht 2020 bietet sich „ein größerer Ausbau der Wasserkraft aus ökologischen Gründen und aufgrund der geographischen Beschaffenheit nicht an.“
Ist Niedersachsen tatsächlich Energieland Nr. 1?
Dabei zählt Wasserkraft zu den ältesten Formen der Energieerzeugung überhaupt. Auch für Niedersachsen lässt sich ihre Nutzung seit annähernd 1.200 Jahren belegen. Aktuell führt die „Kleine Wasserkraft“ in Niedersachsen jedoch in der Energiebilanz ein Schattendasein: Lediglich 0,5 Prozent weist sie bei der Bruttostromerzeugung durch erneuerbare Energieträger aus.
Für Jörg Schöningh, LEE-Vorstandsmitglied und Vizepräsident BDW Bund Deutscher Wasserkraftwerke, ein unhaltbarer Zustand: “Statt die Kleine Wasserkraft auszubauen, verzeichnet Niedersachsen als einziges Bundesland einen Rückbau von Anlagen. Wie können wir da Niedersachsen als Energieland Nr. 1 bezeichnen?“
Aktuell verfügen die niedersächsischen Wasserkraftanlagen über ein Arbeitsvermögen von 270 Gigawattstunden jährlich. Diese Menge könnte laut Schöningh mit entsprechendem politischen Willen auf 1.330 Gigawattstunden verfünffacht werden: „Wir fordern von der Politik, durch die Schaffung geeigneter Rand- und Rahmenbedingungen die ökologische Modernisierung und den Ausbau der Kleinen Wasserkraft zu ermöglichen. Dazu ist die zeitnahe Definition eines Stabilisierungs- und Ausbaupfades notwendig.“
Aktuelle Entwicklung zeigt schmerzhaft Abhängigkeiten auf
Auch die aktuelle Entwicklung im Ukraine-Konflikt zeigt, dass Niedersachsen sämtliche Energieressourcen nutzen muss, um seine Abhängigkeit von importierten Energieträgern zu verringern. Auch wenn die Kleine Wasserkraft naturgemäß nur einen kleinen Teil der niedersächsischen Energiewende stemmen kann: „Trotzdem sollten wir den Weg in Richtung Erneuerbare konsequent weitergehen, weil die Kleine Wasserkraft mit durchschnittlich 4.600 Volllaststunden systemdienlich ist. Wenn andere Erzeugungsformen wetter- oder tageszeitbedingt nicht produzieren können, stehen die Wasserkraftwerke ergänzend parat. Wir müssen die Erneuerbaren im Zusammenspiel sehen“, so Schöningh weiter.
Stromhöchstpreis Folge mangelnden Ausbaus erneuerbarer Energien
Nicht allein die Wasserkraft leidet unter dem mangelnden Zubau. Der über Jahre verschleppte Ausbau an Erneuerbare-Energie-Anlagen rächt sich allenthalben. Denn nicht nur die Wasserkraft wurde in den vergangenen Jahren stiefmütterlich behandelt. Auch Wind-, Solar- und Bioenergie führten jahrelang ein Schattendasein angesichts der gewaltigen Herausforderungen, die die Energiewende mit sich bringt. Dabei garantiert Wasserkraft, genau wie Wind- und Solarenergie, niedrige Stromgestehungskosten, die deutlich unter den Gestehungskosten fossiler oder nuklear betriebener Kraftwerke liegen. Das Dilemma hoher Energiepreise und klimaschädlicher Energieproduktion kann laut Schöningh behoben werden: „Der konsequente, zügige Ausbau von Wasserkraftwerken garantiert niedrige Energiepreise und eine Eindämmung des Klimawandels.“
Die Realität: Stilllegung statt Weiterbetrieb
Umso mehr sorgt die geplante Abschaltung des Wasserkraftwerks im niedersächsischen Wildeshausen an der Hunte für Unverständnis in der Erneuerbarenbranche. Das Land Niedersachsen hatte im vergangenen die endgültige Stilllegung des Wasserkraftwerks beschlossen. „Die Möglichkeiten eines Umbaus, der den Anforderungen an den Tierschutz gerecht wird, existieren. So könnte beispielsweise eine Fischtreppe für die notwendige Überwindung des Bauwerks sorgen. Wir verstehen nicht, warum das Land Niedersachsen an dieser Stelle den Artenschutz weit über den Klimaschutz stellt“, so Schöningh.
Warum Wasserkraft in Niedersachsen dreifach Sinn macht
Denn Klimaschutz und Gewässerschutz lassen sich in Einklang bringen. Deshalb fordert der LEE, ökologische Wasserkraftprojekte, die den niedersächsischen Klimaschutzzielen dienen, vorrangig zuzulassen. Dabei geht es laut Schöningh gerade mit Blick auf bestehende Querbauwerke um neue, naturverträgliche Anlagenkonzepte: „Wir erzielen einen dreifachen Nutzen: Erstens können Fische und andere Lebewesen die Wasserkraftwerke problemlos passieren. Zweitens können wir klimaschonend Energie produzieren. Und last but not least werden die öffentlichen Haushalte entlastet, wenn die Durchgängigkeit für Wasserlebewesen durch private Finanzmittel ermöglicht wird.“
Da wäre es wünschenswert, wenn der niedersächsische Landtag mit gutem Beispiel voranginge und mit der Errichtung einer Wasserkraftanlage einen wichtigen Schritt in Richtung Klimaschutz, Energiewende und Importunabhängigkeit macht.